Die Große Chronik II

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Band 2

Fortsetzung von Die Große Chronik I

V. Die Geister, die Drachen und die Zehn

Eldarir Falderon, Eremit, Schriftgelehrter und ehemaliger Bibliothekar Trigardons schrieb in seinem Lebenswerk „Chronica“ auch folgendes nieder:

Doch ihre Natur konnten Xadomoff und Prandomar nicht völlig ablegen und so schuf jeder fünf Gottheiten, die jeweils eine Seite der Schöpfung vertreten sollten. Die einen Fünf standen für Licht, Ordnung und Gerechtigkeit, während die anderen Fünf Dunkelheit, Chaos und Ungerechtigkeit repräsentierten.

Die Namen dieser Götter waren Sceral, Levonar, Metarian, Neriel, Gavz Dorl, Syrthan, Kordan, Visqe, Enzociar und Xzarrus. Ihre Aufgabe war es, die Welt in einem stabilen Gleichgewicht zu halten.

Um den Zehn die Aufgabe zu erleichtern, erschufen die Zwei noch die Acht. Diese sind heute als Freie Geister bekannt und hören auf die Namen Sylaphar, Tirkan, Umandia, Skamand, Lumetis, Hyruran, Jimane und Zernalon. Obwohl ursprünglich dazu geschaffen, die beständige Schöpfung der Zwei, also die Elemente und die Welt selbst, zu erhalten, während die Zehn über die unbeständige Schöpfung, also die freien und unfreien Völker wachen sollten, nahmen die Geister diese Aufgabe nur halbherzig im Sinne der Zwei wahr und sagten sich von der Ordnung der Welt los und wirkten seitdem im Stillen und Verborgenen für einen eigenen Fortlauf der Geschicke der Welt und selbst die Weisesten vermochten diesem Wirken nie einen Sinn oder eine Absicht zu entlocken. So sind die Freien Geister unberechenbar und vielseitig – weder gut noch schlecht, sondern einfach da.

Damit diese Aufgabe nicht misslang oder nicht wahrgenommen wurde, wurden Wächter des Ausgleichs geschaffen. Die Legende spricht in diesem Zusammenhang auch von Urdrachen, welche den Göttern fast gleichgestellt gewesen sein sollen. Doch sind uns von diesen Urdrachen, den Vätern und Gründern des Drachenvolkes weder Anzahl noch Namen bekannt, sodass hier die Ungewissheit verbleibt. Und so waren auch diese Wächter nichts anderes als Drachen, die, obwohl der Inbegriff der Gerechtigkeit und Neutralität, bald von allen Völkern verachtet, gefürchtet und alsbald auch gehasst wurden. Denn freilich verstand niemand im einfachen Volke den Sinn und Zweck der Existenz von Drachen. Für sie war ein Drachenangriff ein Ausdruck von Brutalität und Zeichen sinnloser Gewalt und Zerstörungswut. Nur die Weisesten vermochten zu erkennen, dass die Drachen nach dem Prinzip des Ausgleichs zu handeln schienen, denn die Drachenangriffe hatten oft eine Beruhigung der allgemeinen Verhältnisse zu Folge, die von den einfachen Leuten nie bemerkt wurde, zu groß war ihre Erleichterung über das Ende der Angriffe.

So war ein Drachenangriff auf eine Siedlung der Völker also nur Ausdruck des herrschenden Ungleichgewichts, welches durch den Eingriff der Riesenechsen wiederhergestellt werden sollte.

Viele Städte, die sich über andere erhoben hatten, wurden von Drachen angegriffen und mitunter sogar dem Erdboden gleich gemacht, um sie dieser Ignoranz und Arroganz zu strafen, mit der sie das Gebot des göttlichen Gleichgewichts missachtet hatten. Städte wie das einst so große, mächtige Stadtkönigreich Trigardon, meine Heimatstadt, fielen den Drachen zum Opfer.

Hier sei ein Freund von mir zitiert, welchen ich in den letzten Jahren erst kennen lernte, nach der Zerstörung unserer beiden Heimatstädte durch die Flamme des gleichen Drachens.


Auszug aus den „Erinnerungen“ des Dephtivlias Agnostikar, Gelehrter der arkanen Elementarmagie zu Arcafid, welcher zur gleichen Zeit wie Eldarir Feldaron lebte: Trigardon. Das war der Name, vor dem wir uns ewiglich gefürchtet hatten. Und wenn wir uns nicht ewiglich gefürchtet haben, so haben wir uns über Jahrzehnte beängstigt gefragt, wann diese Macht, diese absolute Macht in der Gegend auf die Idee käme, uns ebenfalls zu unterwerfen. Nur wenige Stunden der Reise von Trigardon entfernt lagen wir, die Bewohner Arcafids, inmitten des Einflussgebiets dieses Königsreiches. Unsere einzige Existenzberechtigung war unser Wissen um die Elementarmagie. Trigardon wusste, dass es sie teuer zu stehen käme, griffen sie uns an. Jedenfalls glaubten sie das. Trugbilder waren unsere einzige Verteidigung gegen die übermächtige Macht auf der anderen Seite der Hügelkette, von der wir wussten, dass wir ihr nichts entgegen zu setzten hatten. Nichts. Außer List, Täuschung und Schläue. Nur Listenreichtum konnte uns vor der Vernichtung durch Trigardon bewahren.

Doch das Ende, welches uns heimsuchte, war anders als erwartet. Trigardon war nicht der Auslöser, der Grund unseres Untergangs und doch gingen wir wegen Trigardon unter.

Eines Nachts sahen wir, wie ein gewaltiges Heer Trigardon verließ. Wäre es je bis an die Mauern Arcafids herangekommen, es hätte uns überrannt. Doch dazu kam es nicht. Ein geflügelter Schrecken, ein Drache, überflog in dieser Nacht die Ebene von Hulgala, auf der sich das Heer gerade befand. Doch viel bedrohlicher als der Schatten der Lüfte wirkte der Schatten am Boden. Entsetzt sahen wir zu, wie der Drache Trigardon zerstörte, während der Schatten, seine Bodentruppen, die Armee Trigardons, das absolute Machtmittel der ganzen Region, einfach pulversierte. Die unzähligen Fackeln waren innerhalb kürzester Zeit verschwunden, ein schlecht brennendes Grasfeuer war alles, was die Ebene danach heimsuchte. Zuerst befiel uns die Euphorie, war doch diese Gefahr ein für alle Mal gebannt. Doch dann wurde uns auf einmal klar, was wir da gerade beobachtet hatten, wie vollkommen die Vernichtung gewesen war und wir bekamen es mit der Angst. Was, wenn dieser geflügelte Schrecken uns für einen Bundesgenossen Trigardons hielt? Schließlich waren wir die einzige Stadt innerhalb des Herrschaftsgebietes, welche keine Spuren der Kämpfe und Belagerungen aufwies, auf deren Zinnen nicht das Banner von Trutzburg wehte. Verunsichert, wie wir waren, wussten wir nicht, was zu tun war. Einige schmetterten diese Angst als völlig unbegründet ab und sprachen von der Gelegenheit, das entstandene Machtvakuum zu nutzen. Andere, darunter auch ich, verschwanden in die Berge.

Welch weise Entscheidung dies im Nachhinein darstellte! Wir waren noch keine Stunde außerhalb der Stadtmauern, da brannten diese bereits – der schwarze Schatten hatte sie in Brand gesetzt, die Stadt komplett überrannt. Alle zurück gebliebenden Bewohner kamen um, zu Grunde gerichtet von einem Drachen und seinem Schattenheer. Zwei Städte waren auf diese Art und Weise in nur einer Nacht zerstört worden. Und es war nicht absehbar, wie viele dieser Drache noch vernichten würde …


Auszug aus dem Werk „Drachenfall“, zu finden in der Bibliothek des Krallenturms zu Dúath, Verfasser unbekannt.

Doch gab es diese Zerstörungen auf beiden Seiten. Sowohl auf der Seite der Ordnung als auch auf der Seite des Chaos. Aber letztendlich war es selbst den Drachen nicht möglich, ihre Neutralität zu wahren. Denn schon bald gab es unter ihnen Geschöpfe, die es bevorzugten, eine bestimmte Seite zu strafen. Und die Zehn, die das Handeln der Drachen genau begutachteten, blieben nicht untätig, diese Hüter des Gleichgewichts für sich zu gewinnen. Und so kam es bald, dass die Drachen, ursprünglich die Hüter der Waagschale, nun zu Werkzeugen und Heerführern der jeweiligen Fünf wurden und Evarsgohre wieder mit Chaos, Tod und Zerstörung überzogen wurde. Es war die Zeit des Krieges der Götter.

Einige Gelehrte sind jedoch der Meinung, dass die Drachen erst dann mit ihren Angriffen begannen, als sie ihre Neutralität bereits aufgegeben hatten. Der Fall der Drachen war ihrer Meinung also eine Verführung durch Worte, nicht eine Verführung durch Macht.

Nur wenige der Drachen blieben neutral. Doch waren diese, jetzt wo ihre Artgenossen nicht mehr als ein Instrument rivalisierender Götter waren und sie gar verfolgten, kaum noch in der Lage, ihrer Aufgabe nachzukommen und so zogen sie sich vom Weltgeschehen zurück, entgingen der Verfolgung durch ihre Artgenossen und ließen so dem Spiel der Kräfte zwischen Ordnung und Chaos freien Lauf. Drachen wie der mächtige Dunkelzahn und Grimald der Weise, die ihre Neutralität vor der Welt bewahrt hatten, taten das letzte, was ihnen ihre Philosophie erlaubte: Sie krochen in Höhlen, in Vulkankrater, auf Bergspitzen und ließen sich für Gezeiten nicht wieder blicken.

Und wieder stürzte Evarsgohre in eine Zeit des Chaos und der Anarchie. Der Krieg der Götter dauerte an und nur wenige, sehr wenige Flecken zeichneten sich durch Ordnung, Stabilität und Sicherheit aus. Jedenfalls solange, bis kein Drache auf die Idee kam, diese Orte der Zuflucht dem Erdboden gleichzumachen.


Epilog: Ein Ausblick in die Zukunft oder ein Zwischenspiel für die Vergangenheit

Wie es dazu kam, dass sich die Zustände wieder stabilisierten, das ist nicht genau bekannt. Denn es kam gerade zu dem Zeitpunkt, wo die Völker Evarsgohres selbst nicht mehr an den Bestand ihrer Zukunft glaubten.

Es ist der Zeitpunkt des Hier und Jetzt …

Ist die Zeit des Jetzt besser als die Zeit des Gestern? Heute ist der Welten Ordnung komplizierter denn je. Anhänger des Sceral und Anhänger des Syrthan stehen einander so verbittert gegenüber wie damals die Völker zum Anbeginn des Seins. Sieht man es so, so hat sich in all den Jahren nur wenig geändert. Komplizierter ist die Ordnung der Welt – wie schon gesagt – geworden. Heute noch zu trennen zwischen Licht und Schatten ist schwer geworden, ziehen sich diese Grenzen doch durch das ganze Land. Licht thront neben Schatten, das Chaos herrscht neben der Ordnung und inmitten all der Kriege gibt es noch einen Hort der Neutralität, eine letzte Bastion der ältesten Ordnung der Zehn, bevor die Kämpfe und Kriege um die Herrschaft einer Seite erneut begann. Die Geschicke der Welt sind wie die Schaufeln eines Mühlrades und die Taten der Bewohner der Welt sind wie das Wasser, welches das Rad antreibt. Wir werden sehen, aus welcher Richtung das Wasser fließt und was unter dem Gewicht des Mühlsteins zerbrochen und zermalmt wird.

Solange die Schöpfung der Zwei bestand hat, wird der Kampf andauern. Ebenso wird der Krieg der Götter andauern, denn auch er hat sein Ende noch nicht gefunden.

Die Frage, die wir uns hier und heute stellen müssen, ist also weder die nach dem Beginn noch nach dem Ausgang dieses Kampfes, sondern lediglich wann der Kampf zu Ereignissen führt, die weit reichende Folgen für die Geschicke der Welt haben werden. Bis dahin wird sich trotz aller Ereignisse nichts für die Bewohner Evarsgorhe ändern, denn im Grunde werden sie jeden Tag aufstehen und feststellen, dass sich nichts geändert hat und es den Launen der Götter überlassen bleibt, ob sie auch am nächsten Morgen wieder aufstehen und sich das Gleiche denken werden oder ob sie für den Krieg der Welten ihr Leben lassen.

Selbst die Weisesten vermögen dies nicht zu erkennen und auf die Fragen, wie es nun weiterginge, antworten sie immer wieder gleich: Die Geschichte der Welt ist noch lange nicht an ihrem Ende angelangt.