Gnomenlist und Geisterfluch
Diese Schriftrolle erzählt die Geschichte zum Feiertag Lumetis' Tyrannei, der am fünften Tag des Suarna begangen wird. Sie stammt von der Bibliothekarin Azura Debonaire, die mündliche Überlieferungen gesammelt und schließlich die ganze Legende rekonstruiert hat.
In den frühen Tagen des Suarna, als die zweite Ernte eingebracht war, errichteten die Bewohner Ortädrims einen Altar, priesen den Namen Umandias und brachten ihr reiche Opfer dar. Denn Ortädrim war ein Gnomendorf, gehörte also einem Volk, das sich seit jeher mit dem Wasser verbunden fühlte. In jener Zeit aber wanderte Lumetis an der Südgrenze Dunladans entlang, denn es war bekannt, dass die wilden Völker des Südens gerne die Zeit nach der Ernte nutzen, um Beute zu machen.
So kam Lumetis eines Morgens auch nach Ortädrim und bat dem Ortsvorsteher an, sein Dorf mit einem Schutzzauber zu belegen. Allerdings wollte sie dies nicht umsonst tun, sondern forderte einen beträchtlichen Teil der Ernte. Mindestens soviel wie Umandia geopfert worden war wollte der Schutzgeist für sich. Der Ortsvorsteher aber kannte Lumetis' Ehrgeiz, und so bot er ihr eine Wette an.
„Ich weiß,“ so sprach er, „dass eure Macht groß ist. Doch Umandia schenkte uns das ganze Jahr lang Regen, so dass unsere Felder fruchtbar waren und unsere Tiere saufen konnten. Seid ihr sicher, dass ihr sie übertreffen könnt? Ihr müsstet geradezu allmächtig sein ...“
Seine Worte hatte er mit Bedacht gewählt, die Falle war aufgestellt. Lumetis lächelte gönnerhaft: „Ich bin ein freier Geist, die einzigen die mir Befehle erteilen können sind die Götter. Lässt man Lichte und Dunkle Fünf außen vor, so gibt es nichts, was meiner Macht Einhalt gebietet. Einer meiner Zauber wird reichen, um euer Dorf vor allem zu schützen, was ihm passieren kann.“
Da aber erinnerte sich der Gnom an einen Trick, der schon seinen Ahnen bekannt gewesen war. Zum Schein ging er auf das Angebot ein, doch klagte er über den hohen Preis. Schlussendlich kamen beide zu folgender Wette: Lumetis sollte ein Opfer erhalten, das doppelt so groß war wie das an Umandia, wenn sie ihre Allmacht beweisen könne. Sollte sie den Beweis allerdings schuldig bleiben, so würde sie den Zauber weben müssen, ohne auch nur einen Laib Brot oder einen Fisch zu erhalten. Und sie musste den Zauber einmal in jedem Jahr erneuern, ohne dem Dorf aus Rache Unheil zuzufügen.
Um Lumetis' Allmacht festzustellen, sollte sie eine Aufgabe erfüllen, die ihr der Ortsvorsteher stellte. Als es soweit war, grinste er verschmitzt und rief zu seinen Leuten: „Seht her, das ist die große Lumetis, die unser Dorf vor den wilden Horden bewahren will! Da ich aber weiß, wie stark die Zyklopen sind, die uns jedes Jahr aufs Neue angreifen, möchte ich einen Beweis ihrer Macht.“ Lumetis lächelte zuversichtlich in die Reihen der kleinen Wesen und verneigte sich.
„So lasst uns beginnen. Ich möchte, dass ihr, Lumetis, einen Stein erschafft, der so schwer ist, dass ihr ihn selbst nicht hochheben könnt.“
Noch immer lächelte die schemenhafte Gestalt, schwang ihre Arme und setzte zu einem Zauber an. Mitten in der Bewegung stoppte sie allerdings, als hätte sie ein Blitz getroffen. „In der tiefsten Ebene von Xzarrus' Reich sollt ihr schmoren!“ schleuderte sie dem Gnomen entgegen. Da aber tat sich der Himmel auf und ein grelles Licht erleuchtete den Platz.
„Erinnere dich an dein Versprechen, Lumetis. Schenke ihnen den Zauber und tu ihnen kein Leid, sonst werde ich dir zeigen, was wahre Macht bedeutet.“
Ebenso plötzlich, wie das Licht gekommen war, war es wieder verschwunden. Lumetis war bleich geworden, selbst für einen Geist wirkte sie unnatürlich blass. Wortlos wob sie den Zauber und kehrte dem Dorf den Rücken. Sie tat den Gnomen wirklich kein Leid, doch verbreitete sie Angst und Schrecken in der ganzen Umgebung. Und wir erinnern uns noch heute daran, denn der Tag, an dem ein sterbliches Wesen einen Geist durch eine List bezwang, ist ein heiliger Tag. Lumetis' Tyrannei nennen wir ihn, und das ist seine Geschichte.
Was aber lernen wir daraus? Es gibt Dinge auf dieser Welt, die sich den Gesetzen der Logik entziehen. Konnte Lumetis einen solchen Stein nicht erschaffen, so ist sie sicher nicht allmächtig. Hätte sie aber einen solchen Stein geschaffen, so hätte sie ihn doch nicht heben können. Und wäre sie mächtig, wenn es Dinge gibt, die so schwer sind, dass ihre Kraft nicht ausreicht um sie hochzuheben? Wie man dieses Rätsel lösen und dabei seine „Allmacht“ bewahren soll, ist ein Rätsel, und nicht im Leben eines Drachen werden wir es lösen.
Azura Debonaire, im Mirsoval des 760. Jahres nach den Bruderkriegen
