Von den zwei Brüdern
Dies ist die Rekonstruktion einer Sage vom freien Geist Hryuran, die Lydia Sternentod während ihrer Ausbildung zur Priesterin der Neuen Ordnung angefertigt hat. Sie handelt von der zweifelhaften Kraft, die Hryuran manch' Zornigem verleiht und der Raserei, deren Taten man bald schon bereut.
In einem Menschendorf hoch im Norden lebten einst zwei Brüder. Der Ältere war groß gewachsen und von kräftiger Statur, sodass bei einer Meinungsverschiedenheit der Jüngere stets das Nachsehen hatte. Schlimmer noch, der Ältere demütigte und piesackte seinen kleinen Bruder, den er insgeheim beneidete, wann immer er nur konnte. Der jüngere Bruder war nämlich von aufrechtem Charakter und ein tüchtiger Arbeiter, der ältere hingegen ein Tunichtgut und Faulpelz. So mochten die Leute im Dorf den Jüngeren mehr, weshalb sie den Älteren stets tadelten: „Nimm dir ein Beispiel an deinem jüngeren Bruder, der hat nicht so viele Flausen im Kopf wie du!“
Eines Tages liefen beide Brüder am Dorfplatz entlang, da begegnete ihnen ein Händler. Dieser sprach: „Ich brachte eine Wagenladung Güter aus dem Nachbardorf hierher. Morgen ist Markttag und der Wagen muss noch entladen werden. Meine Glieder sind müde von der langen Reise und mein Knecht ist nicht aufzufinden. Wollt ihr beide mir nicht den Wagen entladen, während ich einen Trunk in der Taverne nehme? Ich will euch auch einige Kupfertaler dafür geben. Kommt nur herüber und sagt mir Bescheid, wenn die Arbeit getan ist.“
Die Brüder willigten ein, doch kaum war der Händler in der Taverne verschwunden, da sprach der Ältere: „Entlade du den Wagen, ich habe keine Lust dazu.“ Der Jüngere wandte entrüstet ein: „Warum soll ich die Arbeit allein machen? Du musst mir helfen, immerhin werden wir gemeinsam entlohnt.“ Doch der Ältere sagte: „Sei nicht immer so ein Moralapostel! Tu was ich sage oder es wird dir schlecht ergehen!“ Und der Kleinere, der nur zu gut wusste, was ihm sonst blühte, tat die ganze Arbeit allein.
Als er fertig war, ging der Ältere in die Taverne zum Händler und holte die Belohnung, einen kleinen Beutel voller Kupfermünzen. Der Heimweg führte an einem Feld entlang zum Gehöft der Eltern. Als der Jüngere endlich nach seiner Belohnung fragte, entgegnete der Ältere: „Ich will das Geld morgen auf dem Markt ausgeben. Vielleicht gebe ich dir dann etwas ab, vielleicht nehme ich auch alles für mich. Wenn du brav bist und mir nicht immer widersprichst, kriegst du vielleicht etwas ab.“ Der Jüngere aber, erschöpft von der harten Arbeit, die er ganz allein verrichten musste und voller Wut über die ständigen Sticheleien fing an gegen seinen Bruder zu schimpfen und zu klagen.
Dies hörte Hryuran, der grade über das Feld spazierte, und gesellte sich zu den beiden, denn er liebt den Zorn und erscheint, wo immer er ihn findet. Seine Anwesenheit lässt die Gemüter entflammen, bis alles in Chaos und Krieg versinkt. So wurden beide Brüder immer hitziger in ihren Beschimpfungen und Rangeleien, bis der Ältere schließlich ausholte und dem Jüngeren eine deftige Backpfeife verpasste, sodass dieser zu Boden fiel. Doch da packte den Jüngeren eine nie gekannte Stärke, denn Hryuran war in ihn gefahren und sprach: „Ich bin der Freie Geist Hryuran, und ich will dir helfen, dich endlich gegen deinen Feind zur Wehr zu setzen. Bekämpfe ihn mit aller Macht und du wirst nicht scheitern!“
Und zum ersten Mal war der kleinere Bruder in der Lage zurückzuschlagen, was er in ausgiebiger Weise tat. All der angestaute Hass über den großen Bruder entlud sich mit einem Mal. Blind vor Wut schlug der Junge immer wieder zu und kam erst in der Abenddämmerung wieder zu sich. Hryuran war entschwunden. Seine Fäuste waren blutig und sein großer Bruder lang regungslos vor ihm am Boden, in seiner Raserei hatte er ihn tot geschlagen.
Schnell hatte sich die Geschichte im Dorf herumgesprochen und die Leute begegneten ihm fortan mit Verachtung, einen Brudermörder unter sich wissend. Und der Junge verfluchte Hryuran. Zwar hatte ihm dieser die Kraft gegeben, sich endlich gegen ein großes Unrecht zu wehren, doch hatte der Junge dabei ein noch größeres Unrecht begangen und sich gleichzeitig um alles gebracht, was ihm lieb war, denn nun hatte er keinen Bruder mehr und auch sein guter Leumund war dahin.